Der Krieg, die Haarer, Attachment Parenting und ich

Über lange verdeckte Narben aus Krieg und Nazizeit, deren Auswirkungen und Chancen. Eine persönliche Auseinandersetzung.

Die Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus war über Jahrzehnte klar mit dem Täterbild belegt. Darüber, dass sie auch Opfer waren, wurde nicht laut nachgedacht. Auswirkungen von Traumatisierung und instrumentalisierter Kindeserziehung

 

Dies ist die Rohfassung eines älteren Artikels von mir, der 2014 im unerzogen magazin erschien und auch nach wie vor hier heruntergeladen werden kann. 

Ich veröffentliche ihn nun auch hier, da mir dieses Thema nach wie vor sehr am Herzen liegt und eine wichtige Rolle in meiner Arbeit als Coach und als Journalistin spielt. Auch ist nach wie vor bei mir der Wunsch und die Idee da, zu diesem Thema ein Buch zu schreiben – mit den Erfahrungen der Kriegsenkel und Kriegsurenkel als Eltern (bislang bin ich allerdings noch mit diesen Themen sehr beschäftigt). – Wenn DU Dich da angesprochen fühlst, kontaktiere mich bitte ! – In meinem eigentlich dritten Kongress, der durch Krankheit und Tod einer lieben Angehörigen bisher leider nicht so stattfinden konnte wie geplant, spielt dieser Bereich ebenfalls eine große Rolle. Hinzu kommt, dass viele der Auswirkungen auf den Umgang mit Babys und Kindern a) auf den Namen Johanna Haarer begrenzt wird und b) oft auf die Zeit des Dritten Reichs begrenzt wird.

Aktuell möchte ich hier (u.a., nicht abschließend) auch auf das Buch von Johanna Haarers Tochter Gertrud verweisen sowie auf die Arbeit meiner lieben Kollegin Ingrid Meyer-Legrand und das Buch “Kriegserbe in der Seele”.

Auch mit dem Bezug auf die heutige Kriegs- und Geflüchtetenthematik ist der Artikel leider aktueller, als ich es damals ahnte und als es mir lieb ist.

Aber von Anfang an.

 

Ich habe überlegt, wie ich diesen Artikel aufbaue; in welcher Person ich schreibe. Ich wähle „ich“, denn es ist persönlich. Es betrifft mich.

Als Mutter, als Tochter, als Frau, als Kriegsenkel, als Elternberaterin.

Der Name Dr. Johanna Haarer, deren Buch ich nebst Chamberlains Werk dazu vor ungefähr sechs Jahren mit damals einjähriger Tochter zum ersten Mal las, ist mittlerweile in aller Munde.

Das Ende des Krieges ist nun fast 70 Jahre her.

“Opa war kein Nazi!”

„Opa war kein Nazi!“ – man will die Ereignisse aus der Familiengeschichte heraushalten. Das Übereinbringen dieser mit dem Menschen, den man kennt und vermutlich liebt, ist schwer. Faktisch wissen wir viel, praktisch wollen wir das Zusammentreffen mit unserer privaten Sphäre verhindern.

Eine gleichnamige Studie (Welzer) aus dem Jahr 2002 versuchte in 40 Familiengesprächen dem Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis auf die Spur zu kommen. Da wird der Mitläufer zum Widerstandskämpfer, oder man weiss schlicht und ergreifend nichts. Tatsächlich einen „Nazi“ in der Familienhistorie hatte demnach kaum jemand.

Oft wird es auch so sein – vielleicht haben die wenigsten wirklich hochrangige Funktionsträger in der Familie gehabt. Meist gilt deswegen vermutlich aber nicht automatisch das Gegenteil. Opa war vielleicht auch nicht zwingend nicht ein Nazi. Die meisten werden so wie zu jeder anderen Zeit – bzw. angesichts der existentiellen Nöte noch mehr reduziert auf das Wesentliche – versucht haben, in ihrem kleinen Mikrokosmos irgendwie durchzukommen, sich und ihre Familie durchzubringen. Das vermeintlich Beste herauszuholen aus dem, wie die Zeiten nun einmal waren. Sicherlich auch beeinflusst von dem, was rundherum geschah und gesagt und gehört wurde. Wie kann man glauben, dass das ohne Wirkung bleibt?

Kleine Geschichten aus dem Alltag wie Kinder, die in Lager gebracht wurden, sich wochenlang um ein Kaninchen allein kümmern sollten, sogar im Zelt mit ihm schliefen und eine Beziehung zu ihm aufbauten und es am Ende der Übung brutal töten mussten, als erste Handlung mit dem lange ersehnten HJ-Messer. (Chamberlain S. 160/161) Und auch von Johanna Haarer existiert auch noch ein weiteres Werk, um die dem Babyalter Entwachsenen einzufangen  – „Mutter, erzähl mir von Adolf Hitler“; der Titel ist Programm. Nun war Haarer nicht die Einzige, auch ein Name wie Hildegard Hetzer wäre zu nennen.

Ähnlich wie Haarer war auch sie lange nach dem Krieg noch entsprechend aktiv, sie erhielt eine Psychologieprofessur in Gießen… Die Tatsache, dass beispielsweise Haarers Buch (nur ohne den Zusatz „deutsch“) bis in die 80er Jahre aufgelegt wurde, legitimierte auch das alte Werk, das vielerorts noch in den Regalen stand. War ja schließlich nur eine neue Auflage. So entging sicher vielen, dass selbst Haarer sich ein wenig dem Zeitgeist angepasst hatte und versuchte, vom Bad Girl zum Good Girl zu werden (ich vergleiche die Ausgaben von 1936 und 1962).

Die Propagandamaschine des Dritten Reiches wirkte fort

Unterschwellig blieb einiges; z.B. ihr fast phobischer Umgang, Kinder nicht „riechen“ zu können und auf eine überpenible Sauberkeit zu achten, dass mancher Säugling einfach auch aus seinem Charakter heraus schreie oder sich nicht ohne Anlass mit dem Kind abzugeben und eine übertriebene „Affenliebe“ zu vermeiden.  Auch das Mütterberatungs-Modell hielt sich (mindestens mancherorts) ebenfalls bis in die 70er Jahre. So vieles war einfach „common sense“, ob das Stillen/Füttern nach der Uhr, das Schreien lassen, die Mär vom Verwöhnen und das Bild vom kleinen „Haustyrannen“.

Gute Kinder hörte und sah man nicht. Auch diejenigen, die nie einen Erziehungsratgeber in die Hand genommen hatten, ergo auch Haarer und Hetzer nicht, konnten sich dem nicht entziehen. 3000 Wanderlehrerinnen „schulten“ die jungen Mütter in den Reichsmütterschulungen, einer Art mehr oder minder verpflichtenden Treffen und Kursen nach einheitlichem Vorbild, denen die Haarer-Bücher als Grundlage dienten. Insgesamt nahmen ungefähr 3 Millionen Mütter bis Kriegsende daran teil. Nicht alle werden freiwillig hingegangen sein, nicht alle werden die dort vermittelten Dinge umgesetzt haben. Und doch, so ganz ohne Einfluss kann es nicht bleiben, was einem wieder und wieder erzählt wird. Was alle machen. Es sickert ins kollektive Unbewusste. Haarers Werk war nicht einfach ein Buch, das in den Regalen stand und sich zufällig zum „Bestseller“ entwickelte.

Es war Teil einer und eingebettet in eine riesige(n) Ideologie- und Propagandamaschinerie; „flink wie Windhunde, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder“ sollte die deutsche Jugend sein, die Welt solle vor ihr erzittern, so war Hitlers Vorstellung von den Zielen „seiner Pädagogik“. Teilweise tat sie das, rundum tobte der Krieg. Die Eltern oder Großeltern der Kriegskinder hatten einen weiteren Krieg und die Rezession erlebt. Das Eine kann nicht ohne das Andere betrachtet werden.

„Wie soll ein Erwachsener Tränen trocknen und Zuversicht vermitteln, wenn ihm dasselbe nie zuteil wurde? Die Erziehungsideale waren nicht Milde und Verständnis, sondern Abhärtung und Gefühlsresistenz gewesen. Die Kriegswirklichkeit hat diese anerzogene Härte gegen die eigenen Gefühle bei den Kriegs- und Trümmerkindern zementiert.“ schreibt beispielsweise Hilde Lorenz.

Ich sehe meine Töchter, 7 und 4 Jahre, und wie selbständig und selbstsicher sie oft sind – und wie klein dennoch und welches hohe Maß an Begleitung sie in mancher Situation brauchen. Wie sehr sie ihren Papa lieben und brauchen. Wie wichtig ihnen manche vermeintlichen „Kleinigkeiten“ sind, auf was sie achten. Wieviel kleiner sie scheinen, wenn sie etwas ängstigt. Ich sehe mein Baby, dass uns mit den Augen sucht, sobald wir nicht in der direkten Nähe sind. Und dann denke ich an Trennungen auf unbestimmte Zeit durch Kinderlandverschickungen (Anm.: Verbringung der Stadtkinder auf’s Land, vor allem aus Gegenden ohne ausreichende Luftschutzkeller; in den letzten Kriegsjahren waren sie eine reine Hilfstruppe. Zudem bot dies natürlich die „Möglichkeit, Kinder in großem Rahmen und für längere Zeit total zu erziehen“, so die Reichsjugendführung), Auseinandergerissen werden auf der Flucht, Kinder ohne ihre Eltern im Bombenbunker, ich denke an Kinder, die durch brennende Trümmer klettern und auf Leichen treffen, ich denke an die „Todesfächer-Bombardements“.

Ich sehe meinen kürzlich verstorbenen Vater vor mir und den Ausdruck, den sein Gesicht bekam, wenn er von der brennenden Stadt erzählte, die er vom Hügel aus sah, allein. Eins der wenigen Ereignisse, die er tatsächlich aus eigenem Erleben schilderte, bei denen das Private über das Allgemeine, über sachliche Schilderung hinaus kam. Daran, dass er als Fünfjähriger mit meiner Oma über Wochen zu Fuß und mit dem Zug aus Oberschlesien floh, von den Granaten, die die Dorfjungen den ungeliebten Flüchtlingen zum Spielen gaben. (Obgleich der Krieg grundsätzlich bei uns ein großes Thema war, die Dinge, die uns tatsächlich erzählt wurden, waren wenige). Dass er seinen Vater wie so viele andere erst Jahre nach Kriegsende, ausgezehrt aus russischer Gefangenschaft und mit eigenen Traumata versehen nach insgesamt 13 Jahren Abwesenheit und Trennung von seiner Familie, wiedersah.

Ich versuche diese Bilder übereinander zu legen; es gelingt mir nicht, da fehlt die Vorstellungskraft. Ja, ich bin froh und dankbar dafür, dass es abstrakt sein darf, dass wir Derartiges nicht erleben müssen. Und doch sind auch wir betroffen. Denn das, worüber wir da reden, das war eben nicht Irgendwer, kein Land irgendwo auf der Fernsehlandkarte, weit weg. Nein, es waren unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Bei dem, was man heute zu Traumaentwicklung weiß, hätte man Heerscharen von Therapeuten beschäftigen können. Aber das ist nicht geschehen, und auch die Therapeuten waren oft nicht unbelastet. Es galt, zu schweigen, es galt, das zerstörte Land wieder aufzubauen; „schaffe schaffe Häusle baue“. Das Täterbewusstsein überlagerte lange das Opferbewusstsein. Lange hat man zu Traumaforschung und Entwicklungspsychologie in Bezug auf die Kriegskinder und Kriegsenkel nicht 1 und 1 zusammengezählt.

Die Psychotherapeutin und Traumaspezialistin Luise Reddemann, Jahrgang 1936 und somit selbst Kriegskind, schreibt, die Kinder waren extrem traumatisiert, und das kumulativ. Sie hatten nicht ein, sondern viele traumatische Erlebnisse erlitten und lebten zusammen mit Erwachsenen, die ihrerseits selbst extrem traumatisiert waren. Somit fehlte oft das, was Kinder zum Aufbau von Resilienz brauchen, nämlich ihnen liebevoll zugewandte, schützende Erwachsene; die Möglichkeit, das Trauma zu überwinden, sein überlastetes psychisches System an eine einfühlsame Bezugsperson anzuschließen. Glücklicherweise gab es auch diese; und so sind nicht alle schwer geschädigt aus dieser Zeit herausgegangen. Reddemann sagt, „der Körper vergisst nicht“, oft äußern sich spätestens im Alter die verdrängten, abgespaltenen Gefühle  in Krankheiten. Es wurde verdrängt, andere hatte es schlimmer getroffen. Die Kinder konnten nicht reden über das, was sie gesehen oder erlebt hatten. Die Erwachsenen häufig auch nicht, oder nicht so, wie es die Kinder gebraucht hätten. Man weiß inzwischen, dass Traumata, wenn sie in einer Generation nicht aufgearbeitet werden, an die Kinder weitergegeben werden können (transgenerationale Weitergabe), auch wenn diese selbst keinen traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt waren, so Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch. Somit ist die Verarbeitung der elterlichen Traumatisierungen aus der eigenen Kindheitsgeschichte und das Erreichen emotionaler Offenheit Voraussetzung für die gesunde Entwicklung zwischen Eltern und Kindern und den Aufbau eines sicheren Bindungsmusters.

Das tyrannische Baby

Ich glaube schon, dass es da eine spezielle deutsche Geschichte gibt, auch wenn natürlich manche Sichtweise über das „tyrannische Baby“ sich lange Zeit in ähnlichem internationalem Kontext bewegte und auch nicht von den Nationalsozialisten „erfunden“ wurde. Sie fielen nicht einfach vom Himmel, aber zusammen mit Hitlers „Brot und Spielen“ in Form von Arbeit und Autobahnen auf fruchtbaren Boden. Viele Ansatzpunkte waren bereits vorher da, die Nazis haben sie jedoch „perfektioniert“ und in ein großes Ganzes eingebunden. Zudem hat kein anderes Land in dieser Form zwei Weltkriege auf eigenem Boden erlebt und dann noch eine Teilung. Völlig unabhängig von der Schuld und dem, was dazu geführt hat, sind die Auswirkungen auf die Kinder und auf die Erziehung, auf die Entstehung von Traumata und deren Bewältigung wohl einfach gegeben. Auch verzögerten sich somit andernorts bereits einsetzende Entwicklungen; in den USA beispielsweise galt ab den 50er Jahren das Werk des Dr. Benjamin Spock als Standardwerk, und bereits damals wusste man „Babies are human beings!“ Von dieser klaren Sichtweise war man in Deutschland zur gleichen Zeit noch meilenweit entfernt.

Ich weiß noch, wie es sich für mich als Kind und Jugendliche anfühlte. Ich hörte im Geschichtsunterricht von den Ereignissen und fühlte die kollektive Schuld. Ich kann bei meinem Mitschüler Christoph Amend unterschreiben, der schreibt, wir haben die Fakten erklärt bekommen, aber gleichzeitig die Moralkeule um die Ohren gehauen bekommen, sodass es uns schwerfiel , Konsequenzen für unser Leben daraus zu ziehen. Die Geschichte wurde nicht zu unserer Geschichte gemacht. (Amend, Morgen tanzt die ganze Welt) Geschichte in Form von Geschichtsunterricht in den 80er und frühen 90er Jahren endete da, wo sie für uns anfing. Irgendwie bekam ich das nicht überein mit dem offensichtlichen Grauen, das in der Familie gefühlt wurde, sowie mit Erzählungen oder Wissen über Ereignisse, die nach meinem Ermessen Leid sein mussten, aber worüber nicht oder nur verharmlosend gesprochen wurde.

Gerade wenn ich von den tatsächlichen Kriegskindern ausgehe bzw. Kleinkind- oder Geschwistergeneration der ab 1940 Geborenen. Sie selbst waren keine Täter. Wie hätten sie es auch in diesem Alter sein können?

Täter und Opfer

Ihre Eltern oder bisweilen auch ältere Geschwister waren Täter und Opfer zugleich, im Großen oder im Kleinen, aber so sehr zurückgezogen manche vielleicht auch leben mochten, in kleinen Dörfern im Westen, Krieg und Vertreibung und die Nazi-Diktatur holten jeden ein. Den einen mehr, den anderen weniger. Sei es durch den Parteivorsitzenden vor Ort oder den Nachbarn, der nicht in die Partei eintrat. Sei es durch den jüdischen Nachbarn, der verschwand oder versteckt wurde. Sei es durch die kleinere oder größere Stadt in der Nähe, die bombardiert wurde, die Cousine, die dadurch ihr Dach über dem Kopf oder gar die Mutter verloren hatte. Man selbst hatte es noch rechtzeitig in den Bunker geschafft, der hinter einem nicht mehr. Oder sei es dadurch, dass der Vater als Soldat weg war, an der Front, oder Hunger oder Armut.

Oder die allgegenwärtige Propaganda; Pimpfe, Jungvolk, die HJ-Ortsgruppe oder die örtliche Mütterberatung. Gewalt überall – die, die im Dienste des Nazistaates angewendet wurde, im Land und außerhalb und die Rache der davon Getroffenen. Später, Kriegsende; auf Flucht oder Vertreibung gestorbene Kinder, die am Wegesrand zurückgelassen werden mussten. Kinder bekamen die Verantwortung für’s eigene Überleben, weil niemand sie ständig im Auge behalten konnte.

Sei still!

Sie mussten leise sein, um nicht entdeckt zu werden, still sein. Sie sollten die Erwachsenen, die so oft selbst nicht mit dem zurechtkamen, was da war, nicht noch mehr (ver)stören, diese hatten oft keine Kapazitäten dafür. Wie soll ein kleines Kind, das tote Babies an der Straße liegen sieht, Vertrauen ins Leben entwickeln und glauben, das alles gut ist ? Wie soll eine Mutter, die ihre Kinder verliert und keine Zeit hat, um sie zu trauern, wieder „normal“ weiterleben? Überlebt-haben als momentane Gnade, die jeden Augenblick widerrufen werden kann, wie geht man damit um? Das vaterlose Leben im und nach dem Krieg?

Dann die Teilung Deutschlands, der Bau der Mauer, wieder Trennung von Familien. Unterschiedliche politische Erziehung, unterschiedliche Erlebnisse in beiden Teilen Deutschlands. Auswirkungen des Kalten Kriegs.

Ereignisse wie diese, die den jeweiligen Mikrokosmos Familie mit voller Wucht trafen, gab es zuhauf. Keiner, der niemanden verloren hatte oder nicht jemanden kannte, der dieses oder jenes erlebt hatte. Alles war „normal“, es ging ja jedem so. Das macht das Erlebte aber für jeden Einzelnen auf Dauer nicht einfacher zu ertragen. Manch potentiell traumatisierendes Ereignis wurde von Teilen der Familie zusammen erlebt, anderes nur von Einzelnen (Soldatenväter, Gefangenschaft, in Trennung Erlebtes – wenn einer allein in einem Schutzkeller saß oder an den NS-Jugendaktivitäten teilnahm). Und meist war es nicht nur ein Ereignis – dabei hätte eins für ein Leben gereicht.

Heute, wo durch den Arbeitsmarkt oft eine hohe örtliche Flexibilität gefordert ist, erscheint es nicht außergewöhnlich, wenn jemand statt in Königsberg in Frankfurt wohnt und sich neu einfinden muss. Vertreibung nüchtern als Adressänderung zu werten, blendet die Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen aus.

Und für die Kinder ist es nicht nur die große Weltgeschichte, die Verletzungen hinterlässt. „Kein Mensch denkt darüber nach, was ein Fünfjähriger seiner dreijährigen Schwester antut, wenn er ihr die Haare kämmen muss“, schreibt beispielsweise Hilke Lorenz in „Kriegskinder“ über den Alltag eines Geschwisterpärchens in der Nachkriegszeit.

Kinder einer Mutter, die nach der Flucht an einem neuen Ort, an dem sie nicht willkommen waren, alleine ihre Kinder durchbringt und den ganzen Tag schwer arbeitet. Überforderung prägte oft den Alltag; Gefühle und Gefühlsäußerungen hätten nur gestört, die im Alltag so dringend benötigte Kraft gebunden.

In den Erzählungen, soweit sie denn überhaupt stattfinden, werden verharmlosende Worte gebraucht wie  „gefallen“ oder „im Krieg geblieben“- klingt so, als könnten sie aufstehen und wiederkommen, wenn sie es nur wollten – und überhaupt: „das war halt damals so“. Irritierend auch der scheinbar unbeschwerte Tonfall, in dem schlimmste Erinnerungen immer wieder erzählt werden.

Vieles „war halt so“ und da „musste man eben durch“. Und vieles dieser Denkweise hat sich oft gehalten. Wem begegnete nicht schon „sei still“, „nun wein` doch nicht/hör doch auf zu weinen/ist doch nicht so schlimm“ im Umgang mit seinem Kind? Oder mit sich selbst in der eigenen Kindheit?

Unsere Eltern und wir

Der buddhistische Mönch Thich Nath Hanh sagt, wir alle tragen unsere Eltern in uns.

Diese Dualitäten anerkennen und aushalten. Die Ambivalenz, dass Opa (oder Uropa) Täter und zugleich ein guter, liebender Opa gewesen sein kann. Dass die Deutschen Täter und Opfer zugleich waren und das Bewusstsein über das Eine nicht das Andere schmälert. Und auch heute, auch wir: dass wir nicht ins „Mütterbashing“ verfallen und jungen Eltern mit der Haarer-Tradition die „Nazikeule“ um die Ohren hauen, aber offen sind dafür, dass wir, dass junge Eltern vielleicht nach wie vor eventuell nicht unbeeinflusst sind von dem, was war. Die Zeit vermag Wunden zu heilen, aber ein automatischer Vorgang ist das nicht.

Miriam Gebhardt untersucht als Historikerin in ihrer Abhandlung über „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ unter anderem die Tradition der Babytagebücher und dem, was man daraus ablesen kann. Unauffällig, leise wird da auf den letzten Seiten eine Tagebuchreihe einer Familie betrachtet, die mit dem jeweiligen Nachwuchs 1936 – 1974 – 2005 geführt wurde. Die Ähnlichkeiten in diesem Drei-Generationen-Vergleich sind frappierend und auf eher technisch-gesundheitliche Aspekte gerichtet; man bleibt distanziert. Die Familien“tradition“ geht über „neuere Erkenntnisse“ hinaus.

Man geht inzwischen davon aus, dass es Ähnlichkeiten gibt zwischen dem, was die Kriegskinder erlebt und ggf. ihren Kindern weitergegeben haben und dem Einfluss, den das auf das Leben der Kriegskinder sowie der Kriegsenkel hatte.

Kriegsenkel

Die Kriegsenkel, so schreiben Sabine Bode und Anne-Ev Ustorf (Jg. 1974) über die Jahrgänge der 60er Jahre bis 1975, stehen oft privat oder beruflich auf der Bremse und bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sie sind rastlos, wechseln häufig Job oder Wohnort, haben nicht viele Sachen in ihren Wohnungen, immer bereit, immer auf dem Sprung. Oder das scheinbare Gegenteil, das Nacheifern den Häuslebauern, das Sesshafte, das Festhalten an Beziehungen, Jobs oder Wohnorten, die nicht (mehr) guttun.

Kennzeichnend ist die Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern. Viele sagen, meine Eltern kennen mich eigentlich gar nicht wirklich; ich konnte mit ihnen nie über meine Gefühle reden, sie waren emotional nicht erreichbar. Die Eltern selbst konnten über ihre Gefühle nicht sprechen. Die Kriegsenkel konnten so ihrerseits selbst wieder eine Auseinandersetzung auch mit unangenehmen Gefühlen nicht angemessen lernen an dem Punkt, wo es hingehört hätte. Die Eltern waren oft zu bescheiden in ihren immateriellen Wünschen an das Leben und hatten keine Empfindsamkeit für seelische Leiden der Kinder, die ja in „guten Zeiten“ aufwachsen. Somit wussten die Kinder nicht, wohin mit ihren Empfindungen und fühlten sich allein oder falsch. Muttergefühle wurden teilweise gedämpft ausgelebt, weil die Mütter als Kinder traumatisierter Mütter auch nichts anderes erfahren hatten.

Mit Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ kam 2002 erstmals wieder ins Bewusstsein, dass die Deutschen auch Opfer sind und waren und die Trauerarbeit und die persönliche Aufarbeitung quasi ausgefallen war. Der Kriegskinder-Kongress in Frankfurt 2005 und die aufkommende Literatur über Kriegskinder und Kriegsenkel, die beispielsweise in den Büchern von Hilke Lorenz, Sabine Bode und Anne-Ev Ustorf zu Wort kommen, ab dem Jahr 2004 läuteten eine Wende ein. Die Kriegskindergeneration befindet sich im dritten Lebensabschnitt. Viele von ihnen haben mittlerweile psychologische und therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen; bei anderen quasi stellvertretend ihre Kinder. Es gibt mittlerweile ein Bewusstsein für die Problematik. Es gibt Selbsthilfegruppen und Seminare.

Und nun waren und sind wir an dem Punkt, an dem die Kriegsenkel und teilweise die danach folgenden Jahrgänge Eltern wurden und werden. Wo sie am Scheideweg stehen, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Was sie tun, wenn gerade in Stresssituationen alte und teilweise unbewusste Muster auftauchen. Oft beginnt dann nochmal eine ganz neue Ebene der Auseinandersetzung.

Ich glaube, dass  gerade in den letzten zehn Jahren auch der Weg langsam freigemacht wird zur Aufarbeitung, zur Freimachung von transgenerationalen Traumata. Und damit für einen anderen Umgang mit unseren Kindern und Babys. Dafür, Nähe auszuhalten – Nähe zu genießen, Bindungen aufzubauen, Kinder wirklich zu begleiten. Auch ihr Weinen auszuhalten und zu begleiten. Kleinen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Zusammen zu schlafen in einem Bett oder einem Zimmer nicht deshalb, weil man auf drei Zimmern mit zum Teil fremden Menschen zusammen leben muss mangels Raum, sondern einfach, weil man es möchte? Die Attachment-Parenting-„Bewegung“ konnte jetzt über den großen Teich herüberschwappen und wird fast „common sense“. Ich denke, dass da ein Zusammenhang besteht. Viele der frischgebackenen Eltern sind keine Kriegsenkel mehr, sondern schon die 4. Generation, sind in den 80er Jahren geboren.

Ich glaube, dass darin eine große Chance liegt, wenn das Bewusstsein weiter geschärft wird. Die Kriegseltern leben oft schon nicht mehr, die Kriegskinder sind in einem Alter, Bilanz zu ziehen. Sie arbeiten ihre Geschichte auf. Die Kindheitserinnerungen kommen wieder, wenn ansonsten das Gedächtnis langsam nachlässt. Teilweise verfallen sie in eine Demenz, müssen sich nicht mehr an das erinnern, wonach sie ohnehin nicht gefragt werden wollten. Manche sehen die Gefahr, dass dort, wo die Vergangenheit noch unbemerkte Kreise zieht, es auch immer schwieriger wird, transgenerationalen Traumata auf die Spur zu kommen, wenn die, die sich erinnern könnten, nicht mehr da sind.

Und die Zeit bleibt nicht stehen; spätestens seit Desert Storm und Kosovo kehrt auch der Krieg wieder in deutsches Bewusstsein und Beteiligung zurück. Flüchtlingskinder aus aller Welt gibt es nach wie vor, und unser Umgang mit ihnen und ihrem Bleiberecht lässt nicht immer darauf schließen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben.

Die Spenden anlässlich des Todes meines Vaters gingen an den Verein Kriegskind e.V..

 

„Unter Beschuss geraten: Dem Tod keinen Widerstand entgegensetzen – ins Leben entgleisen – neugeborenes Nervenbündel – fällt hart ins Kriegsgeschrei ein – tauscht unerfahren die Fronten – vom Bauchraum zum Luftschutzraum.“ (von Barbara Bullerdiek, Kinderkrankenschwester, Jahrgang 1944 – aus „Kriegskinder“ von Sabine Bode)

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3 Kommentare

  1. […] erfüllt sind, ist es leicht, das auch für andere zu tun. Denn das große Problem unserer Elterngeneration ist ja eher, die eigenen Bedürfnisse lange nicht gut spüren zu können, weil sie durch Erziehung […]

  2. Veröffentlicht von Die Essenz des Lebens: Was macht das Leben lebenswert? - Gedankenspiel am 29. April 2019 um 18:52

    […] las ihm den Artikel „Der Krieg, die Haarer und ich“ von Lena Busch vor (du findest ihn hier). Wir fielen uns weinend in die Arme. Und er erzählte mir von Gedanken wie, dass das Verhalten des […]

  3. Veröffentlicht von Die Essenz des Lebens: Was macht das Leben lebenswert? - familiengeflecht.de am 17. Dezember 2019 um 17:44

    […] las ihm den Artikel „Der Krieg, die Haarer und ich“ von Lena Busch vor (du findest ihn hier). Wir fielen uns weinend in die Arme. Und er erzählte mir von Gedanken wie, dass das Verhalten des […]

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